Die Vier Edlen Wahrheiten

Die Lehre von den Vier Edlen Wahrheiten ist die vielleicht bekannteste Formulierung des Buddhadharma. Leider wird sie auch sehr häufig missverstanden. In ihr wendete der Buddha das Prinzip des bedingten Entstehens auf die Grundprobleme der menschlichen Erfahrung an. Er ging dabei wie ein Arzt vor, der eine Krankheit erkennen und kurieren will.

Das ‚Grundproblem’ der menschlichen Erfahrung ist natürlich etwas, das wir alle kennen, auch wenn wir es vielleicht nicht immer wahrhaben wollen: Unser Leben läuft nur selten hundertprozentig so, wie wir es am liebsten häten. Fast immer scheint es an irgendetwas zu mangeln. Das gilt auf allen Ebenen. Dinge, die wir besitzen, gehen kaputt oder verloren, Freunde und Familienangehörige enttäuschen uns. Wünsche bleiben unerfüllt und stattdessen finden wir uns in Lebens- oder Arbeitsumständen, die wir eigentlich nicht möchten. Und — last but not least — die Menschen, die uns lieb sind, oder auch wir selbst erkranken, altern und werden gebrechlich, und irgendwann kommt der Tod. Mag es uns auch jetzt ganz wunderbar gehen, wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass unser Leben häufig wie eine Achterbahn turbulenter Gefühle und Stimmungen verläuft: himmelhoch jauchzend, zu Tode betrübt.

Der Buddha machte sich eine medizinische Formel zunutze, die schon im Indien der damaligen Zeit gebräuchlich war und auch heute bei uns kaum anders sein dürfte: Diagnose der Krankheit — Bestimmung der Ursachen (Ätiologie) — Formulierung des genauen Therapieziels — Anwendung der therapeutischen Maßnahmen. Übertragen auf die uns allen gemeinsame Grundsituation, ergeben sich daraus vier Behauptungen — die vier edlen Wahrheiten:

1. Diagnose: Leben im Samsara ist grundsätzlich unzulänglich oder leidvoll — es ist gekennzeichnet von dukkha.
2. Ätiologie: Die Ursache für dukkha ist die Neigung, bestimmte Erfahrungen zu begehren und festzuhalten, andere hingegen abzulehnen oder zu leugnen. Dieses Bestreben nannte der Buddha tanha, Durst.
3. Therapieziel: Aufhören von tanha, denn wo es tanha nicht gibt, dort gibt es auch dukkha nicht.
4. Therapeutische Maßnahmen: Die Übung des Edlen Achtfältigen Pfades ist die geeignete Methode zum Aufhören von tanha — und damit zur Überwindung von dukkha.

Im Folgenden betrachten wir diese vier edlen Wahrheiten genauer.