| Warum spricht man von Zuflucht?Viele Menschen im Westen finden den Ausdruck Zuflucht zunächst einmal befremdlich. Wenn sie das Wort ‚Zuflucht’ hören, denken sie vielleicht an ‚Aussteigen’ und ‚Vermeiden’. Sie fürchten, dahinter verberge sich eine Flucht vor der ‚Wirklichkeit’ in eine Nische, in der man die Augen vor den Problemen der Welt verschließt. So etwas ist aber mit Zuflucht überhaupt nicht gemeint.
Der Buddha — oder das Ideal der Erleuchtung — ist nicht deshalb eine Zuflucht, weil man bei ihm vor dem Leben davon laufen könnte, sondern weil man nur im vollen Aufwachen zur Wirklichkeit, wie sie ist, echte Freiheit finden kann. Das Wort ‚Buddha’ ist von einem Stamm mit der Bedeutung ‚Aufwachen’ abgeleitet. Die aus dem Erwachen resultierende Erkenntnis und Freiheit schützt ein für alle Mal von der Anhaftung an falsche Zufluchten — jenen Dingen, bei denen die meisten Menschen vergeblich dauerhaftes Glück und Sicherheit suchen und von denen sie immer wieder enttäuscht werden. Zugleich ist mit diesem Erwachen die Erfahrung einer ganz innigen, unverbrüchlichen Verbundenheit mit allen Lebewesen verbunden. Diese Verbundenheit drückt sich in engagierter, liebevoller Tatkraft zum Wohl aller aus.
Zum Buddha Zuflucht zu nehmen bedeutet daher, die Geistesklarheit, Liebe und Energie eines erleuchteten Menschen als Lebensziel anzunehmen und zu versuchen, sie im eigenen Leben immer mehr zu verwirklichen. Das Vorbild des historischen Buddha oder der Erleuchteten der buddhistischen Geschichte, die meditative oder intuitive Begegnung mit transzendenten Buddhas und Bodhisattvas helfen ebenso, das Erleuchtungsideal zu konkretisieren, wie die persönliche Anleitung durch einen weit fortgeschrittenen, lebenden Lehrer.
Nach Erleuchtung zu streben besteht darin, die Übungen und Methoden praktisch anzuwenden, die zum Pfad des Buddha gehören. Im Buddhismus geht es nicht um Theorie und Glaubenssätze, sondern darum, das alltägliche Leben in Einklang mit der Wirklichkeit zu bringen. Anders gesagt: Es geht darum, in eigener Erfahrung jene Lehren zu verstehen und umzusetzen, in denen der Buddha und die Erleuchteten der Geschichte ihre direkte, von Worten oder Begriffen nicht gefilterte Einsicht in die Wirklichkeit ausgedrückt haben. Diese Lehren sind der Buddhadharma. In der Sprache der buddhistischen Überlieferung wird die praktische Ausrichtung des Lebens auf den Buddhadharma Zuflucht zum Dharma genannt.
Wer sich im Dharma üben will, benötigt das Beispiel derer, die den Weg schon vorher gegangen sind. Solche Menschen sind Lehrer, die weiter fortgeschritten sind als man selbst. Darüber hinaus können spirituelle Freunde helfen, das Verständnis des Dharma zu vertiefen und Erfahrungen beim Üben besser zu verstehen. Alle diese Menschen bilden den Sangha. Es ist aber wichtig zu erkennen, dass nur jene, die selbst einen hohen Grad von Einsicht in die Wirklichkeit erlangt haben, auch wirklich eine Zuflucht bieten können. In der Sprache der buddhistischen Überlieferung sind dies die Angehörigen des Arya-Sangha. Nur diese bieten eine wahre Zuflucht. Alle anderen sind noch zu sehr in ihre Verblendung und Ichverhaftung gefangen und insofern keine wirklich zuverlässigen Stützen.
Zufluchtnahme zu den Drei Juwelen ist das, was einen Menschen zum Buddhisten oder zur Buddhistin macht. Sie ist kein einmaliger Akt, sondern eine Entscheidung, die man tagein tagaus erneuern muss. Dabei geht es um ein ganz entschiedenes Handeln, durch das die Buddhistinnen und Buddhisten ihrem Leben eine klare Richtung geben — in der Überzeugung, dass sie auf diese Weise Freiheit von allen Anhaftungen, radikale Einsicht sowie unbedingte und universelle Freundlichkeit entwickeln werden.
Alle Schulen der buddhistischen Überlieferung betonen in ihren Schriften die Bedeutung der drei Zufluchten. Das heißt aber nicht, dass alle so genannten Buddhisten auch tatsächlich die drei Juwelen zum Zentrum ihres Lebens und Strebens machen. Der Weg zur Erleuchtung wurde im Lauf der buddhistischen Geschichte von den unterschiedlichsten Institutionen und Ritualen, kirchenähnlichen Strukturen und Organisationen sowie kulturell geprägten Normen und Verhaltensmustern umrankt und teilweise verdeckt. Manche von diesen können zweifellos als wirksame Mittel zur Erleuchtung dienen und die Zufluchtnahme unterstützen. Vieles ist aber auch zum Selbstzweck erstarrt. Buddhisten stehen daher immer wieder vor der Aufgabe zu erkennen, welche Elemente der buddhistischen Überlieferung auch heute noch — unter den Bedingungen der modernen Welt — geeignet sind, die Zuflucht zu den drei Juwelen zu vertiefen. Eine solche kritische Anverwandlung der Überlieferung hat die Vitalität des Buddhismus in seiner mehr als 2500jährigen Geschichte geprägt. Heute, in einer sich rasant und tief greifend ändernden Welt, ist diese Bereitschaft zur Erneuerung notwendiger als je zuvor.
|