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Die Macht der Ansichten

Wenn es überhaupt so etwas wie Wahrheit gibt, dann ist es offenbar eine nachgerade lebenswichtige Frage, ob die Ansichten, die unser Handeln leiten, richtig oder falsch sind. Wir sind wohl in jedem Fall gut beraten, wenn wir gelegentlich die Grundüberzeugungen überprüfen und hinterfragen, die wir bislang für selbstverständlich genommen haben.

Ein Beispiel: Die meisten Menschen sind davon überzeugt, dass es so etwas wie ein beständiges ‚Selbst’ — eine ‚Seele’ oder ein ‚Ich’ — gibt, etwas also, das gewissermaßen das Zentrum ihres Lebens oder ihr wahres ‚Wesen’ ausmacht. Solche Überzeugungen sind zwar oft ziemlich vage und verschwommen, und es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass man sich einbildet, schon längst über einen solchen Glauben hinaus zu sein. Intellektuell gesehen trifft das vielleicht auch zu, doch in emotionaler Hinsicht — und erst recht auf einer am ehesten als vorbewusst und fast instinktiv zu bezeichnenden Ebene — werden wir wahrscheinlich weiterhin von solchen Vorannahmen beherrscht. Mein Glaube an ‚ich’ und ‚mich’ führt mich dazu, dass ich eine ganze Menge Zeit damit verbringe, um ‚mich’ zu kreisen . Sollte einmal etwas passieren, durch das ich mich in Frage gestellt fühle — und so etwas passiert wahrscheinlich täglich mehrmals, sei es durch die Kritik eines Mitmenschen, den Ausfall einer Geräts, eine Verzögerung, Enttäuschung oder Krankheit —, dann reagiere ich beunruhigt und verunsichert. Ich fühle mich gestört, vielleicht sogar bedroht und habe schon eine Flucht- oder Angriffshaltung eingenommen, ehe ich überhaupt registriert habe, dass ich mich irritiert fühle. In Sekundenschnelle werden alle möglichen Gefühle, Einstellungen und Verhaltensweisen mobilisiert, die helfen sollen, mein kostbares Selbst wieder auf seinen vermeintlich rechtmäßigen Thron zu setzen.

So unterschiedlich derartige Korrektur- und Selbstschutzmaßnahmen bei verschiedenen Menschen auch sind, sie beruhen doch allesamt ihrerseits wieder auf bestimmten Ansichten darüber, was uns gut tut: Vielleicht gehen wir gleich zum Gegenangriff über, oder wir lassen unsere Frustration an einem Punchingball, an der Familie oder auf der Joggermeile im Stadtpark aus. Die einen suchen Trost bei den Leckereien im Kühlschrank oder der Konditorei, während andere zu einem Selbsthilfe-Buch im Bücherregal greifen oder Friede und Geborgenheit an der Schulter eines geliebten Menschen suchen. Manche Leute betäuben ihren Schmerz mit Drogen oder Fernsehen, andere bei einer herausfordernden Arbeit, einem sportlichen oder sexuellen Abenteuer ... auf unzählige Weisen und überaus kreativ erfinden wir immer neue Wege, uns unser selbst zu versichern. Was wir auch tun, ob wir arbeiten oder beten, flüchten oder standhalten, fluchen oder weinen — fast immer zielen unsere Aktivitäten zumindest teilweise darauf ab, unser Ego zu erhalten. Und das finden wir eigentlich auch ganz richtig so, denn das ist es ja schließlich, worum es im Leben eigentlich geht. Oder etwa nicht?

Unsere tiefsten und meistens nur halb oder auch gar nicht bewussten ‚Ansichten’ über uns selbst und die Welt sind äußerst mächtig. Sie bestimmen unsere Entscheidungen und damit ganz weit gehend auch den Gang unseres Lebens. Haben wir ein akkurates Bild von der Wirklichkeit, dann können wir angemessene Entscheidungen fällen und auf fruchtbare und zutiefst beglückende Weise leben. Ist unser Bild aber verschwommen oder gar falsch, dann treffen wir die falsche Wahl und bauen Sandburgen oder Luftschlösser, die dem Ansturm der Realität nicht Stand halten können. Und mit jeder Korrekturmaßnahme stürzen wir erneut vom Regen in die Traufe.

Es gibt also wirklich wichtige Gründe, unsere Ansichten über uns selbst und unsere Welt einmal auf den Prüfstand zu stellen. Für viele Menschen beginnt eine solche Selbstbefragung mit einer Lebenskrise — vielleicht in Folge einer Krankheit, einer zerbrochenen Liebesbeziehung, einem Karriereeinbruch, dem Tod eines vertrauten Menschen ... das heißt mit einer Erfahrung von Leiden, Verwirrung oder Enttäuschung. Oft geht mit einer solchen Leidenserfahrung eine zumindest vage Ahnung einher, dass die uns leitenden Lebensansichten nicht nur nicht hundertprozentig richtig sind, sondern dass sie sogar ausschlaggebend an der Entstehung jener Probleme beteiligt waren, an denen wir selbst und andere nun leiden. Dann beginnen wir vielleicht, Fragen nach Sinn und Wahrheit zu stellen. Einige Menschen untersuchen dann auch die Antworten der Religionen und Philosophien der Menschheitsgeschichte. Wenn sie Glück haben, begegnen sie bei ihrer Suche dem Buddha und seinem Dharma.

Allerdings macht der Buddha es den Suchern nicht gerade leicht. Er bietet kein spirituelles ‚fast food’ an und zeigt auch keinen Schalter, mit dem wir die uns bedrückenden existenziellen Probleme einfach ausknipsen können. Er bietet erst recht nichts, an dem sich unser geknicktes, gebeuteltes Ego wieder aufrichten und neuen Halt und Sicherheit finden könnte. Stattdessen fordert er uns auf, zunächst einmal eine genauere Sichtweise darüber zu entwickeln, wer wir sind und was es heißt zu leben. Er fordert uns auf, unsere bisherigen Lebensanschauungen auf den Prüfstand zu stellen — sie zu erkennen, zu hinterfragen, zu durchschauen — und, sofern sie sich als falsch erweisen, sie abzulegen.